Gänsehaut
Ich sitze mittendrin, bin sozusagen Teil der Inszenierung und der Bühnedekoration, ganz nahe am Geschehen, auf Tuchfühlung mit den Darstellern. Nie zuvor habe ich eine Oper aus dieser Perspektive erlebt, so eindrücklich, so berührend, so aufwühlend. Während dem ersten Akt fliessen die Tränen fast ununterbrochen. Es ist nicht nur das Drama, welches jeder Oper zugrunde liegt, das Leiden, der Schmerz, die Verzweiflung; es ist das eigene, tiefe Miterleben, dessen Sog mich in die Tiefen meiner Gefühlswelt katapultiert. Diese Stimmen, die den Sängern von einer höheren Instanz bei ihrer Geburt gewährt wurden, die Verd'sche Musik, die mir in die Seele kriecht, das blaurote Licht, welches dem Publikum und der Szenerie eine märchenhafte Aura verleihen - all dies stürzt mich in ein Auf und Ab von Empfindungen, wie sie mir lange abhanden gekommen waren. Voller Hingabe verfolge ich die Auftritte der Solisten, überlasse mich den Tönen, die bis zum Ende der Welt faszinieren und verliere mich vollends im Opernuniversum. Ein Abend, der mir unvergesslich bleibt, ein Abend, der mir gezeigt hat, dass ich immer noch wie eine fünfzehnjährige hormongebeutelte Weltentdeckerin zu grossen Gefühlen fähig bin. Ein Gänsehaut-Abend.
Die Idee, eine Oper mitten in's Publikum zu arrangieren, ist grandios. Das Erlebnis so unmittelbar, dass sich auch Neulinge begeistern und sich des Reizes dieser Aufführung nicht entziehen können. Ich klatsche mir die Hände wund, rufe "bravissimi" wie in der scala und stampfe mit den Füssen auf dem Boden. Mein kindliches Entzücken ist ansteckend und die beiden betagten Herren neben mir, gentlemen der alten Schule, erfreuen sich ebenso an meinem Feuer wie an der Veranstaltung. Wir grinsen uns gegenseitig in die Augen, wir leben.
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