Goldstaub
Es ist kurz nach sieben Uhr und zum ersten Mal nach langer Zeit riecht der Morgen nach Herbst. Das Wasser des Flusses drängt mit stiller Macht seiner Bestimmung entgegen. Ewig, endlos, unaufhaltsam. Die Bäume, die beide Ufer flankieren, stehen noch in vollem Saft. Ihre Blätter färben das fliessende Nass mit tiefem Grün, mal gräulich, mal bläulich schimmernd. Über allem hat die Natur einen Schleier aus Goldstaub gebreitet, die roten Tupfer lassen sich schon erahnen. Die Luft ist frisch, noch warm aber angenehm prickelnd, in Feierlaune. Juhui, jubelt es in mir - der September ist da, der Sommer verabschiedet sich langsam, meine liebste Jahreszeit hat begonnen. Ich gestehe, aber nur hinter vorgehaltener Hand: der Sommer kann mich mal!
Mir ist zu heiss! Nachts kann ich nicht schlafen und der Tag reduziert sich auf ein paar Stunden am Morgen. Der Rest ist der Hitze entfliehen. Zuhause mache ich alles dicht und suche die Räume auf, die ich im Winter eher meide - weil sie die kühleren sind. Der Hund und ich, wir dösen uns durch den Tag, müssen auch gar kein pipi mehr. Also, der Hund, ich schon. Die Siesta wird zum Dauerzustand. Klar, im Büro ist das alles keine drei Worte wert; die Klimaanlage, richtets. Ich mag sie trotzdem nicht, hermetisch verschlossene Fenster noch weniger. Abends, wenn man vor das Gebäude tritt, trifft einen die aufgestaute Hitze wie eine Pistolenkugel, der Schock ist gewaltig, die Augen tränen im gleissenden Licht, der Blutdruck sinkt in die Hose. Schlürf schlürf, schlapp schlapp über den dampfenden Asphalt bis zur nächsten schattigen Ecke. Im Sommer kleben die Kleider an den Oberschenkeln, esse ich zuviel Eis, bewege mich zuwenig, bin dauermüde, auf Wespenjagd, auf Zeckenpirsch, sonnencrèmeverschmiert und ständig am wechseln der Bettwäsche. Ich meide öffentliche Räume weil sich auch in Mitteleuropa nicht jeder ein Deo leisten kann, ich auf zur Show getragene Körperlichkeiten, die nicht meinem Sinn für Estethik entsprechen, gerne verzichte und mich der Müll am Rheinufer erzürnt. Der Sommer und ich - wir sind kein Traumpaar. Dafür begeistere ich mich für den Herbst. Nie sind die Farben leuchtender, der Himmel klarer, die Berge näher und die Luft satter. Die Wanderschuhe stehen wieder im Flur, auf dem Balkon kann man zu Mittag essen und meinen tiefen Schlaf verdanke ich einem angenehm temperierten Schlafzimmer und einer warmen Decke. Ich beobachte das Einfärben der Blätter, sammle Kastanien und fülle meine Jackentasche wie kleine Kinder. Morgens ertappe ich mich mit Jogginggelüsten, traue mich an kürzere Röcke wegen der Strumpfhosen und freue mich an modischen Kompositionen mit Lederjacke und Stiefel. Meine Lebensgeister erwachen, mein Make-up verdient seinen Namen, meine Wohnung wird kuscheliger. Die wunderschöne Teekanne kommt wieder zum Einsatz und Sonntags überfallen mich Backgelüste. Mhm, Waffeln. Als Schülerin schon liebte ich das Herbstgedicht von Rilke - der Sommer war sehr gross - und von Louis McNeice - September has come, it is hers - und wenn die Natur es gut mit uns meint, dann beschert sie uns drei Monate dosierte Sonne, buntes Laub, knatschblauen Horizont und polenta coi funghi porcini. Ich bin ein Herbstkind und die Zeile "wer jetzt allein ist, der wird es lange bleiben" konnte ich schon mit zwölf Jahren stoisch übersehen. Wo ist der erste Blätterhaufen? Ich will da hinein springen!