Instagram - Arsch - Posing

Man lernt doch immer wieder dazu! Meine jüngste Tochter hat mir im Zuge einer Bergtour mal eben erklärt, was heute "geil" und "angesagt" ist: man lässt sich irgendwo auf dieser Welt, wo der Hintergrund stimmig und spektakulär ist, von hinten fotografieren, möglichst mit ausgebreiteten Armen, und postet das Ergebnis auf Instagram. What the fuck? Nachdem ich meine Sprachlosigkeit überwunden hatte - das geht schnell bei mir - erst mal ablästern über die Dummheit der Menschheit, dann ausprobieren. Nun waren mir sowohl Instagram wie Twitter schon immer suspekt. Instinktiv habe ich Medien, von sozial kann keine Rede sein, bei denen es primär um Selbstdarstellung- und Optimierung geht, von Anfang an abgelehnt und diese nie bedient. Ich kenne nur ganz wenige Menschen, die es schaffen, mit 280 Zeichen eine dezidierte Meinungsäusserung stilistisch wertvoll auf den Punkt zu bringen. Meine Befürchtung, dass das Gezwitscher eine Unmenge von blabla in der Welt verbreitet, hat sich leider bewahrheitet. Nicht einmal das Amt des amerikanischen Präsidenten ist davor gefeit, sich "übelst" (Neudeutsch) zu blamieren. Bei Instagram finden sich bestimmt auch gute und interessante Beiträge, aber gehen sie nicht in der Menge der totalen Verblödungsartikel unter? Nur, dagegen sein ohne zu wissen, wie es funktioniert, geht gar nicht. Deshalb stelle ich mich - und überrede später ebenfalls mein Herzblatt dazu - an einen Ort mit Aussicht und folge brav den Anweisungen der Instagram-Kennerin. Das Ganze dauert keine Minute und ich bin jetzt ganz sicher: so eine Kacke können sich nur Leute einfallen lassen, die nicht um ihr tägliches Brot kämpfen müssen. Meine ganze Aufmerksamkeit ist auf die korrekte Postur gerichtet, wie muss ich das Bein stellen, wie die Arme schwenken, wie das Popöchen bestmöglichst arrangieren. Während dieser Beschäftigung entgeht mir alles, was rundherum schön und wunderbar ist. Die Sicht auf Berge und See, die Pflanzen, die granitenen Felsen mit ihren Maserungen, die Menschen, die bei mir sind. Wenn ich dieses Erlebnis jetzt hochrechne und mit unzähligem Posieren multipliziere, sorry, aber da muss unsere Gesellschaft ja zugrunde gehen. Während meiner Teenagerzeit war ich höchst verunsichert, labilen Stimmungen ausgesetzt, manipulierbar und stellte mich ständig in Frage. Wie soll ein junger Mensch das heute aushalten? Wer ist der oder die Schönste, wer macht die tollsten Ferien, wer hat die dicksten Möpse, wer die schlauchbootigsten Lippen, wer trägt die trendigsten Klamotten, wer hat die meisten follower, die meisten clicks, wer die süssesten Kinder, wer das pompöseste Haus? Hilfe, Schrei, Graus. Wir jedenfalls haben nicht die sexiesten Ärsche, aber zum Beweis, hier sind sie... 

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20. Juli 1944: Attentat auf Hitler. Ich möchte an dieser Stelle an dieses Datum erinnern, gegen das Vergessen, für den Widerstand, der ja leider immer erst kommt, wenn es zu spät ist. Ob das zum Thema des 20. Julis 2019 passt? Aber ja, es macht erst so richtig klar, was heute himmeltraurig als wichtig angesehen wird. Wir brauchen solche Erinnerungen, denn Demokratie ist nicht selbstverständlich. Wir dürfen nie mehr nicht hinsehen, nicht hören, nicht aufbegehren. In meinem Verständnis ist es undenkbar, dass die Millionen Opfer des Nationalsozialismus (ses??) umsonst gestorben sind. Zivilcourage und das Vertreten von Werten, das Leben von Menschlichkeit sind auch und ganz besonders im Jahr 2019 gefragt. Und all jenen, die populistisch, rassistisch und mit Hass auf alles und jeden unterwegs sind zeigen wir den Arsch!

Marita