Sprachlos

Ich hege ein Faible für Luxushotels mit dem gewissen Flair. (Hört sich so an, als würde dies sprachlich gesehen, ein französischlastiger Artikel). Wen wundert's? Schliesslich war die elegante Sprache jahrhundertelang diejenige der Hotelbranche. Es gab ganze Generationen von Chefköchen, die ihre Rezepte und Menüs nur auf französisch verfassten. Jedenfalls, Flair und Geschichte, gepaart mit dem besonderen Ambiente, einem comme-il-faut Service, Jesse's, schon wieder, und der Patina von Gästescharen, die ihre Spuren hinterlassen haben, das ist meine Leidenschaft. Bis heute habe ich es nicht geschafft, Hotelière auf diesem Niveau zu werden, aber das ist vorgemerkt im Universum für das nächste Mal. Mangels kontinuierlichen Aufenthaltes in solch illustren Häusern gönne ich mir ein oder zweimal im Jahr einen kleinen Ausflug unter die schmucken Dächer einer jener Institutionen. Diesmal war zwar nix mit Dächern, weil Hochsommer, dafür ein parkähnlicher Garten, ruhig und romantisch gelegen, mit kunstvollen Blumenrabatten, schmiedeeisernen Gartenmöbeln, liebevoll gedeckten Tischen, zuvorkommendem Personal, die sogar noch wussten, dass man von rechts serviert, das Brot ebenso wenig anfasst wie das Glas am Rand und das man nicht abräumt indem man einfach die Teller stapelt. Ich schwelgte im Hochgenuss meiner eigenen déformation professionelle und genoss die angenehme Tischkultur. Rechts von mir sass eine sehr betagte Dame mit ihrer Tochter, links von mir ebenfalls ein Mutter-Tochter-Gespann, allerdings jüngeren Datums. Hinter mir ein Zürcher, vor mir ein deutsches Ehepaar sowie ein einzelner Herr. Ich zähle das so penibel auf weil in einer vollen Stunde zwischen all diesen Menschen kein einziges Wort gefallen ist! Also gut, sie haben sich beim Ober für das Einschenken der Getränke bedankt oder für die Präsentation der Rechnung. Die Zürcher haben irgendwann mal kurz ins Handy geblökt aber sonst das reine Nichts. Silenzio totale. Ich war zugleich fasziniert und fassungslos und hab natürlich angefangen, fantasievoll rumzuspinnen, Hypothesen aufzustellen, einen Plot für einen Film auszudenken. Warum redet die Tochter nicht mit ihrer alten Mutter, lässt sie da einfach sitzen und ignoriert sie komplett? Vielleicht wartet sie auf ihr Erbe und hat sie nur des schnöden Mammons wegen begleitet? Und die anderen beiden? Straft die Tochter, die sich ausschliesslich auf ihr elektronisches Ersatzteil und ihren Teller konzentrierte, die Mutter mit Verachtung weil sie sich von ihrem reichen Mann und Vater der Göre getrennt hat? Ist dies das letzte Mal, dass sie Ferien im Luxus geniesst? Kennt sich das teutonische Paar schon zu lange, eigentlich mögen sie sich nicht mehr und gilt deshalb ihre ganze Aufmerksamkeit dem weissen Westie, der unter dem Tisch lag und ab und zu hinterrücks hervor knurrt. Ist der Westie gar der Mörder? Einzig die Zürcher wechselten zwischendurch ein paar Sätze, über nicht anwesende Personen und in abfälligem Ton. Sowas verbindet. Macht finanzielle Unbeschwertheit sprachlos? Vielleicht liege ich ja falsch und diese Gäste genossen einfach das Schweigen? Obwohl, unheimlich mutet es schon an, wenn zwischen Menschen, die gemeinsam an einem Tisch sitzen, sechzig Minuten lang kein Sterbenswörtchen fällt. Sind sie etwa schon tot, ich meine empathisch tot? Denn manchmal reicht ja eine einfache Frage, das Interesse am Gegenüber, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Schön, plauderten die Servicemitarbeiter die ganze Zeit im Hintergrund - auf italienisch. Sie redeten über ihren freien Tag, über ihr Auto, ihre Kinder, das Wetter, über ihre Arbeitsschichten, über das Essen, ihr Haustier und über die "saldi", sprich, den Ausverkauf. Blöde nur, dass ich Gast war; ich hätte gerne mitgeschwatzt. Parbleu! 

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MaritaFERIEN