Eierlikör
Wahrscheinlich ist es der Eierlikör! Ganz bestimmt ist es der Eierlikör. Und Blut ist dicker wie Wasser. Hat meine Urgrossmutter immer gesagt. Meine Oma auch. Und meine Mutter. Zum ersten Mal seit langem Weihnachten “zu Hause”, da wo meine Wurzeln sind, da wo ich noch Familie habe und Menschen, die mich quasi mein Leben lang kennen. Das ist schon was. Völlig unverkrampft und in mir ruhend verbringe ich die Tage, lasse mich bekochen und umsorgen. Mein grösster Arbeitsaufwand stellt das Decken und Abräumen des Tisches dar - immerhin mehrmals täglich. Den Klang der Wanduhr kenne ich seit frühesten Kindertagen; er war immer da, ein Laut der mir durch und durch geht. Diese Uhr hat die fröhlichen Kindertage ebenso geschlagen, wie die himmelhoch jauchzenden, zu Tode betrübten Teenagerdramen, hat keinen Unterschied zwischen den ersten Flirts und der tiefen Trauer beim Verlust von Oma und Mutter gemacht. Zuverlässig schlägt sie die halben und die ganzen Stunden und sagt mir, dass ich lebe, liebe, zweifle und hoffe. Dazwischen liebe Menschen, die interessante Geschichten erzählen. Also, nicht alle sind interessant, aber darauf kommt es auch nicht an. Wichtig ist, dass wir zusammen sitzen, in dieser Geborgenheit, die nur mit einem gewissem Grundvertrauen entsteht. Es ist so ein Kindgefühl, eine Leichtigkeit, die einen von allen Verpflichtungen frei spricht, einfach den Tag vor sich hin plätschern lassen, ohne Hast und Druck. So wie es ist, so ist es gut. Und obendrüber, da glänzt sich der Himmel einen Stern. Nein, ich bin nicht beschwipst, so stark ist der Eierpunsch jetzt auch nicht. Ich will das jetzt so sagen. Denn gerade eben war ich mit dem Hund draussen und alles ist kristallklar. Jeden Stern sieht man, so wie es sich an Weihnachten gehört. Drinnen sitzen meine Lieben und bauen ein Legoauto, wie vor langer Zeit, als helle Kinderaugen staunend vor dem Tannenbaum standen. Und ein warmes weiches Etwas umhüllt meine Seele. So richtig kitschig. Eierlikör eben. Oder doch Weihnachten?