Unbeliebt

“In der letzten Zeit mache ich mich öfter unbeliebt". Meine vierundsechzigjährige Nachbarin wirkt zerknirscht. Wir befinden uns mitten in einem lebhaften Gespräch über Nachhaltigkeit, ökologisches Handeln, Klimaveränderung, Plastikmüll und die schwindenden Ressourcen dieser Erde. "Lass mich raten, Du machst konkrete Vorschläge um die Situation zu verbessern und keiner will's hören?" "Genau so! Aber fünf vor zwölf ist doch längst vorbei. Wenn nicht sofort was passiert, werden wir schlimm enden". "Was sind denn das für Vorschläge, die keiner hören will?" will ich wissen. "Da sich ja freiwillig niemand kümmert, plädiere ich dafür, dass mit dem sechzigsten Lebensjahr ein Verbot für Kreuzfahrten und Flüge in Kraft tritt". Hammer, denke ich. Klar, dass das niemand hören will. "Ja, ich weiss, das ist eine Beschneidung der Persönlichkeitsrechte, ein Eingriff in die Selbstbestimmung. Tatsache ist jedoch, dass alle Welt über die Probleme redet und sich mokiert aber niemand will verzichten". Verzicht - ein Wort, welches in unserer Zeit an Bedeutung verloren hat. Wer will schon verzichten? Die hohe Überschuldung schon der Jungen spricht Bände, während sich die Kreditkartenherausgeber und die Anbieter von Konsumkrediten in's Fäustchen lachen. Wir zwei Weltverbesserinnen sind uns einig: runter vom Konsumwahn, öfter nein sagen, weniger wegwerfen, mehr flicken, ÖV statt Auto. Ich bin übrigens 2009 das letzte Mal geflogen; erst wegen Flugangst, dann wegen der Umwelt. Dadurch habe ich gemerkt, wie ausserordentlich schön Europa ist und wenn ich auf dem Julierpass stehe, ist es nicht anders wie in Tibet. Aber die Menschen und die Kulturen? Nun, die kann ich ja herein bitten, wenn ich sie treffe, statt sie in eine Flüchtlingsunterkunft zu stecken. Kreuzfahrten haben wir uns verboten. Seit wir wissen, was da hinter den Kulissen läuft und was für enorme Umweltverschmutzer die Ozeanriesen sind, verzichten wir. Wir sind Mitglieder im Verein solidarische Landwirtschaft und essen nur Saisongemüse- und Obst aus der Region. Auf Exotisches und Erdbeeren an Weihnachten verzichten wir. Nur zu besonderen Anlässen gibt es mal eine Avocado oder eine Papaya. Unser Fleisch kommt vom Bio-Bauernhof und wir teilen uns mit anderen eine Wildsau aus dem Jura. Da wir auf täglichen Fleischkonsum verzichten, kommen wir so prima hin. Im Supermarkt verzichte ich konsequent auf Abgepacktes und benütze eine gehäkelte Einkaufstasche oder eine Mehrwegtasche. Wann immer möglich, holen wir die Milch in Glasflaschen beim Bauern und verzichten auf Pet. Hört sich nach viel an aber wir verzichten noch lange nicht genug. "Ich fürchte, mit Deiner Idee zum Verbot von Flug- und Kreuzfahrtreisen kommst Du nicht weit; lass uns lieber drüber nachdenken, was wir sonst noch tun könnten". "Das verstehe ich nicht; die haben alle Kinder und Enkelkinder, denken die nicht an die Zukunft?" Was soll ich sagen? Nein, die Zukunft ist den Meisten scheissegal, jetzt und hier soll es ihnen gut gehen, jetzt und hier muss alles sein und überhaupt, verantwortlich sind immer die anderen: die Politik, das System, die Gesellschaft. Ich muss ja selber noch viel konsequenter werden und zum Beispiel darauf verzichten, bei jedem Jahreszeitenwechsel neue Klamotten zu kaufen. Einen Trick habe ich mir schon zugelegt: jede Saison lasse ich eine Anzahl Kleider im Schrank hängen und ziehe sie dann erst ein Jahr später wieder an. Funktioniert super, das Hochgefühl ist das gleiche wie beim Neukauf. Meine grösste Herausforderung ist die Reduktion des Wasserverbrauches. Als Putzteufel und Liebhaberin warmer Wannenbäder hier Enthaltsamkeit zu üben ist eine heroische Aufgabe. Verzicht jedenfalls ist nichts Schlimmes, nicht in unseren Breitengraden. Es tut nicht weh und uns geht es nicht schlechter deswegen. Meine Nachbarin und wir jedenfalls sind schon mal drei, die verzichten. Wer noch? 

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Selbstgemacht

Marita