13
Weihnachten 1973 war ich zwölf. Weihnachten 1974 war ich dreizehn.
In den Monaten dazwischen wurde meine Welt auf den Kopf gestellt. Gestern eine fast normale Kindheit in Deutschland, mit Spielgefährten, Schulbesuch (Lieblingsfach Deutsch), Wochenenden und Feiertagen bei der Oma in der Grossfamilie. Ich war ein aufgewecktes Kind, das gerne las und gerne draussen spielte. In der Gruppe war ich Bandenführer und hatte in meinen Kinderbüchern einen riesigen Fundus an Spielen. Egal ob Ottfried Preussler, Erich Kästner, Enid Blyton oder Kleiner König Kalle Wirsch - sie alle waren meine Zuflucht und meine Inspiration. Mein Onkel Hans, ein prächtiger Mensch der während des Krieges wegen seiner Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei verfolgt worden war, war Buchhändler und eine unerschöpfliche Quelle für meinen Lesedurst. Meine kleine, überschaubare Welt war in Ordnung. Zwischen dem ersten VW Käfer meiner Mutter und den obligatorischen Ausflügen in die Umgebung, den Ballettstunden bei Frau Hase, den wilden Spielen im Wald und Feld, den Streitereien mit meiner Schwester fand die übliche Kindheit der 60-er und 70-er statt. Aber eines Tages geriet die Welt aus den Fugen. Wir würden in die Schweiz ziehen, in's Tessin, nach Lugano. Für die Erwachsenen ein unglaubliches Privileg, für mich und meine Schwester der Zusammenbruch aller Sicherheiten. 13 ist ein blödes Alter für solche Umwälzungen. Vorpubertät. Gerade hatte ich entdeckt wie aufregend es war, wenn Robert aus der Parallelklasse (braune Wuschellocken, olivfarbene Haut) mir im Bus den Platz frei hielt. Meine Lieblingsfeindin Ute und ich konnten nicht ohne uns und nicht mit. Wir liessen nichts an Gehässigkeiten aus und fanden uns doch immer wieder. Diese Freundschaft war schwierig und herausfordernd. Daran sind wir gewachsen. Meine erste, beste Freundin Susanne war gerade in mein Leben getreten - die Trennung für uns beide schmerzlich.
Lugano - das Juwel am See. Für mich der tiefe Fall. Ich fühlte mich verloren, konnte weder italienisch geschweige denn schwyzerdütsch welches auf der Privatschule in Locarno gesprochen wurde. Wir mussten jeden Tag anderthalb Stunden hin und anderthalb zurück mit der Bahn fahren. Ganztagsschule - ein schrecklicher Zwang für mich denn meine innere Lebensenergie und mein Bewegungsdrang mussten ständig unterdrückt werden. (das ist auch heute noch so, geschlossene Grossraumbüros und 8 Stunden hinter dem PC sind mein Tod). In der neuen Klasse kam ich gar nicht gut an. Ich konnte Englisch und sehr gut Deutsch, aber kein Französisch. Die Französischlehrerin hasste mich zudem; sie musste schreckliche Erfahrungen im Krieg gemacht haben. Ich war "die Dütschi". Ich war Jahrgang 1961. In Biologie und Geographie war ich weit voraus; wir hatten Zivilkunde, modernen Religionsunterricht und einen antiautoritäten Klassenlehrer gehabt. Ich stellte unbequeme Fragen und erzählte Lügengeschichten über meinen Vater, den es ja gar nicht gab. Da meine Fantasie zwar unerschöpflich, meine Kontrolle über die Gespinste aber nicht vorhanden war, flog ich auf und katapultierte mich ins Aus. Zudem konnten unsere finanziellen Verhältnisse mit den Zahnarzt-, Anwalts- und Industriellenkindern nicht mithalten. Ferien am Meer lagen nicht drin, Flugreisen noch viel weniger. Meine erfundenen Abenteuer wurden immer dreister und eigentlich hätte ich den Pulitzerpreis bekommen sollen. Statt dessen Häme, Schimpf und Schande. Nach drei Monaten wurde ich so krank, dass meine Mutter in einer Mammuttour - damals noch Walensee Qualensee - zurück nach Deutschland fuhr. Kaum war das Dorf in Sicht, verschwanden Fieber und Bauchweh. Es war meine erste psychosomatische Krankheit aber das Wort kannte kein Mensch und bei Kindern schon gar nicht. Schliesslich lebte man in Zeiten des Wirtschaftswunders und der 68-er, Heimweh und Entwurzelung, damit wollte sich niemand beschäftigen. Leider bin ich nie ganz heimisch geworden. Italien, wo ich auch mal gelebt habe, ist meine zweite Heimat geworden, das Tessin nie. Die Mentalität der Menschen ist mir, mit einigen Ausnahmen natürlich, fremd. Das viele Geld ist den eher schlechteren Charaktereigenschaften zuträglich und der Tessiner hadert ständig mit sich und den anderen. 40 Jahre habe ich ausgeharrt, für meine Kinder, denn ich wollte ihnen das gleiche Schicksal ersparen. Heute lebt eine in Apulien und eine in Basel...
An meinem 50 Geburtstag ein Wiedersehen mit Susanne. Ich musste so heulen.
Übrigens habe ich in Locarno auch einen Spitznamen bekommen "Genie Lavabo". Und jetzt stellt Euch vor, ich wäre aus Syrien gekommen und nicht gut römisch-katholisch gewesen!
Mit dreizehn und ziemlich melancholisch